PREDICTIVE ANALYTICS

„Digitalisierung ist nie nur Technologie, sondern hat immer auch mit Kultur und
Transformations-Methodik zu tun“

Wo steht die deutsche Energiewirtschaft derzeit in ihren Digitalisierungsbestrebungen und welche Herausforderungen kommen auf sie zu? Im Interview erklärt Timo Dell, wie er den Digitalisierungsgrad der Branche heute einschätzt und wieso sie aus seiner Sicht einen Kulturwandel braucht.

Timo Dell
Mitglied des Management-Boards von rku.it und stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands der Energiemarktdienstleister e.V. (BEMD)

Herr Dell, was sind aus Ihrer Sicht die größten Hemmnisse für die Digitalisierung der Energiebranche?

Dell: Ein spürbares Hindernis ist meiner Meinung nach die konkrete und nachhaltige Akzeptanz von Digitalisierungsmaßnahmen in den Energieunternehmen selbst. Dafür gibt es viele Gründe. Zum Beispiel ist es als Begleiterscheinung der technologischen Entwicklung so, dass etablierte Mitarbeiter solchen Projekten oft – aber nicht immer! – erst mal skeptisch gegenüberstehen und es bei diesen etwas mehr Überzeugungsarbeit braucht. Damit einher geht die Frage, wie ein Kulturwandel in Richtung Digitalisierung zu schaffen ist. Viele Versorger haben sich schon auf diesen Weg gemacht, aber ein offener Umgang beispielsweise mit dem Thema Fehlerkultur und Change-Management ist in meinen Augen immer noch die Ausnahme. Ein anderes Digitalisierungshemmnis ist, dass sich die deutsche Energiebranche im internationalen Vergleich nicht in einem so starken Wettbewerbsumfeld befindet. Der Druck, disruptiv in digital neuen Geschäftsmodellen zu denken und daraus auch positive Aspekte für die Zukunft zu ziehen ist vorhanden, im internationalen Benchmark vergleichsweise geringer.

Und was sind die größten Treiber?

Dell: Ein wichtiger Treiber ist sicher, dass Digitalisierungsmechanismen Grundlage sind, die Effizienzgrade in der Energiewirtschaft zu erhöhen. Beispielsweise mittels einer Automatisierung durch Robotik-Technologien oder durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI). Bisher meist manuell administrierte Prozesse werden maschinell mit hoher Qualität ausgeführt. Eine selbst lernende KI unterstützt dabei beispielsweise automatisch notwendige Entscheidungsschritte innerhalb des Prozesses und liefert in anderen Szenarien gegebenenfalls auch vorausschauende (prädiktive) Lösungsalternativen.

Auf der anderen Seite wirkt ganz klar auch die Corona-Pandemie als enormer Digitalisierungstreiber – in der Energiebranche wie in vielen anderen Industriesektoren auch. Das spüren sicher viele von uns im Arbeitsalltag: Alleine die Anzahl an digitalen Meetings hat wahnsinnig zugenommen. Die Zeit- und Kostenersparnis hierdurch ist enorm.

Welchen Reifegrad hat die Digitalisierung Ihrer Meinung nach heute im Vergleich zu anderen Branchen?

Dell: Ich möchte vorausschicken, was Digitalisierung für mich eigentlich bedeutet. Digitalisierung stützt sich meines Erachtens auf zwei zentrale Säulen: Zum einen wird naturgemäß der technologische Aspekt adressiert, zum anderen der notwendige und begleitende Kulturwandel. Digitalisierung ist nie nur Technologie, sondern hat immer auch mit Transformations-Methodik und Unternehmenskultur zu tun, sei es eben eine gelebte Fehlerkultur, den Mitarbeiter mitnehmendes Change-Management oder auch ein agiles Projektmanagement. Wenn ich da ein Benchmarking setze, hat die Energiebranche – aus einem „Dornröschenschlaf“ kommend – in ihren Digitalisierungsbestrebungen schon sehr stark zugelegt. Ich würde sagen, der Digitalisierungsgrad liegt heute bei 60 bis 70 Prozent, es gibt also noch einiges an Potenzial und viel Luft nach oben. In Schulnoten gesprochen, würde ich der Energiebranche aktuell eine gute 3+ geben, mit Tendenz zur 2.

Auf der WE.thinkfuture 2020 haben Sie sinngemäß betont, dass die digitale Transformation stark von der IT abhängt. Was muss die IT konkret leisten, um die Energiewirtschaft auf dem Weg der Digitalisierung zu unterstützen?

Dell: Unsere Welt wird komplexer. Wir alle sind mündig und gut informiert, können uns schnell spezielle Apps oder ein Programm herunterladen. Und genauso ist es heute auch in den Energieunternehmen: Die Fachbereiche sind mittlerweile für sich selbst agierend, nicht jede Technologie-Entscheidung läuft mehr zwingend über die IT-Organisation. Heißt, jeweilige Abteilungen können sich selbst die Tools herunterladen, die sie nutzen möchten. In unserer täglichen Arbeit sehen wir Folgendes: Die Budgets werden in vielen Unternehmen nicht mehr ausschließlich beim CIO gebündelt, sondern wandern in die Fachabteilungen. Dies aber kann zu einem „Applikations-Wildwuchs“ im Unternehmen führen. Die verschiedenen Tools funktionieren zwar für die einzelne Anforderung isoliert betrachtet gut, sind untereinander aber nicht per se interoperabel, greifen möglicherweise nicht gut ineinander. Was die Unternehmen stattdessen brauchen, ist eine starke Vernetzung der einzelnen Applikationen, die ihnen einen durchgängigen und harmonischen Gesamtprozess ermöglichen. Medienbrüche sind zu vermeiden.

Welches Potenzial in Sachen Digitalisierung bietet Ihrer Meinung nach eine stärkere Zusammenarbeit von Energie- und Wohnungswirtschaft – und wo könnten gemeinsame Digitalisierungsbestrebungen ansetzen?

Dell: Ich halte eine verstärkte Zusammenarbeit der beiden Branchen für absolut sinnvoll. Die Energie- und Wohnungswirtschaft liegen thematisch ohnehin nah beieinander. Beide bedienen sich in gewissen Bereichen des Grundprinzips der kommunalen Daseinsvorsorge. Gerade mit Blick auf die Vision der Smart City oder konkret auf smarte, intelligente Quartiere macht ein engeres Zusammenrücken der zwei Branchen absolut Sinn. Das gilt aber auch genauso mit Blick auf vermeintlich profane Geschäftsprozesse wie etwa einen automatisierten elektronischen Rechnungs- und Zahlungsfluss – hier energie- und wohnungswirtschaftliche Prozesse miteinander zu verheiraten, birgt aus meiner Sicht großes Potenzial für die Zukunft.

Wenn wir mal ein paar Jahre vorausdenken: Wie schätzen Sie den Digitalisierungsgrad der Energiebranche in fünf Jahren ein?

Dell: Zunächst einmal hat die Energiewirtschaft allgemein betrachtet hierzulande schon öfter gezeigt, dass sie den Change kann, sei es beim Atomausstieg, der Energiewende oder beim konkreten Umstieg hin zu erneuerbaren Energien. Nun setzt die Energiewirtschaft große Veränderungen vielleicht nicht mit der Geschwindigkeit anderer Branchen um – dafür aber mit einer gewissen Beharrlichkeit, mit Durchsetzungsvermögen und eventuell auch mit mehr Nachhaltigkeit. Ich gehe deshalb davon aus, dass die deutsche Energiebranche in den nächsten Jahren massiv aufholen wird, was die Digitalisierung angeht und dabei auch Lerneffekte aus anderen Industrien mitnehmen dürfte. In fünf Jahren, schätze ich, steht die Branche bei der Schulnote 1 bis 2.

Wenn wir mal ein paar Jahre vorausdenken: Welche konkreten Herausforderungen sehen Sie für 2021?

Dell: Die Herausforderungen sind vielfältig. Meines Erachtens wird die Energiebranche im Jahr 2021 aber drei zentrale Megathemen fokussieren: Zum einen ist es ohne Zweifel die Überwindung der Corona-Pandemie. Sie wird bei einigen Energieversorgern möglicherweise sinkende Absätze verursachen, denn in einigen energieintensiven Industrien stehen buchstäblich die Bänder still. Unternehmen müssen sich neu erfinden und kreativ in neue Geschäftsmodelle einsteigen. Die Krise wird zudem die Technologie-Entwicklung und die As-a-Service-Economy beschleunigen. Hardware, Ausstattungen und Assets werden im Equipment-as-a-Service-Modell vorrangig geleast statt gekauft werden. Gleiches gilt im Softwarebereich für Software-as-a-Service-Modelle.

Zweitens wird das Thema Mobilität in all seinen Facetten ein zentraler Innovationstreiber. Ob als Ankerpunkt einer infrastrukturellen Lösung im Rahmen von Smart-City-Konzepten, als Geschäftsfeld alternativer Antriebstechnologie mit beispielsweise Wasserstoff oder der Bereich der E-Mobilität und Speichertechnologie selbst. Apple etwa will laut Nachrichtendienst Reuters ins Autogeschäft einstiegen und ein Fahrzeug herausbringen. Die naheliegende Vermutung ist deshalb, dass Apple an einer entsprechenden Speichertechnologie gearbeitet hat.

Und drittens wird der „Kampf um die Talente“ eine weitere herausfordernde Aufgabe in diesem Jahr werden. Fachkräfte und Spezialisten sind erforderlich, um die genannten Geschäftsmodelle zu entwickeln, fortzuführen und tragfähig zu etablieren.

Vielen Dank für das Gespräch!

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